90PLUS
·15. Juni 2024
90PLUS
·15. Juni 2024
Italien geht als Titelverteidiger in die EM 2024. Der Kader, den Nationaltrainer Luciano Spalletti für dieses Turnier nominiert hat, ist gut, aber nicht sehr gut. Andere Teams sind besser besetzt. Umso wichtiger ist die Schaltzentrale, das Mittelfeldzentrum. Hier wird es auf zwei Spieler ankommen.
Fußball wäre eine langweilige Sportart, wenn der beste Kader immer gewinnen würde. Viele Fans lieben den Fußball, weil es ein Sport ist, der unberechenbar ist. Schwächen können in einem Spiel, gar über ein ganzes Turnier hinweg kaschiert werden. Durch eine gute Strategie beispielsweise. Durch ein oder zwei Elemente, die besonders gut funktionieren und besonders effektiv sind. Oder aber durch die ideale Spielerpaarung auf der Königsposition, dem zentralen Mittelfeld. Und genau darauf hofft Italien, der Titelverteidiger.
Die italienische Nationalmannschaft geht selten ohne die allerhöchsten Ansprüche in ein großes Turnier. Zu viel Glanz versprühte die Squadra Azzurra in ihrer Geschichte, zu viele Titel wurden gewonnen. Italien ist außerdem ein Land der Fußballstrategen, brachte großartige Trainer hervor, die das Spiel revolutioniert haben. Arrigo Sacchi beispielsweise, der Milan seinerzeit Ende der 1980er-Jahre revolutionierte. Und Italien hatte in seiner Geschichte viele Mittelfeldspieler, die als Strategen galten, das Spiel lenken konnten oder Anführer ihrer Teams waren. Auf manch einen traf sogar beides, also eine prägende Rolle als Spieler und als Trainer zu.
Beim EM-Titel vor drei Jahren spielten die Italiener oft mit einem Dreiermittelfeld bestehend aus Jorginho, Nicolo Barella und Anführer Marco Verratti. Er fungierte als Bindeglied zwischen den Mannschaftsteilen, verdient sein Geld mittlerweile aber in Saudi-Arabien bei Al-Arabi und ist kein Teil des Nationalteams mehr. Dafür Nicolo Barella und Jorginho, die gemeinsam mit Verratti im EM-Finale auf dem Platz standen. Sie dürften im Mittelfeldzentrum der Italiener nun das Stamm-Duo bilden, sobald Barella wieder im Vollbesitz seiner Kräfte ist. Und da Italien mittlerweile überwiegend mit einem 3-4-2-1 spielt (wenngleich eine Viererkette auch vorstellbar ist), sind sie diesmal alleine das Zentrum. Die Erwartungen sind – auch historisch bedingt – groß.
Spätestens ab dem zweiten Gruppenspieltag dürfte das Duo Barella/Jorginho auf dem Platz stehen, wenn die italienische Auswahl spielt. Beide sind von ihrer Art, Fußball zu spielen, grundverschieden. Aber genau das macht diese Kombination aus. Der 32-Jährige Jorginho spielt mittlerweile beim FC Arsenal, erlebt dort seinen zweiten Frühling. Bei Chelsea wurde er am Ende fast schon mit Vergnügen abgegeben, im besser funktionierenden Konstrukt bei den Gunners ist er eine wichtige Stütze. Er ist ein Ballmagnet, passsicher, spielt pro 90 Minuten fast 70 Pässe, bringt fast 90 % davon an den Mann, spielt nicht nur quer, sondern sucht aktiv Möglichkeiten, um den Ball möglichst konstruktiv nach vorne zu bringen.
Ein Sprinter ist er nicht, auch kein sehr dynamischer Spieler im Zentrum, deswegen braucht er einen ebensolchen Nebenmann an seiner Seite. Aber: Die Defensivwerte lesen sich gut, Jorginho gewinnt viele Zweikämpfe, fängt Bälle ab, weil er spielintelligent ist, lesen kann, was der Gegner im Schilde führt. Er ist, wenn man so will, eine Art tiefer Spielmacher, der sich im System Italiens aber nicht zurückfallen lassen muss, weil im Aufbau ohnehin schon eine Dreierreihe auf dem Feld steht. Das erlaubt es ihm, im 6er-Raum zu bleiben und Barella die Möglichkeit zu offerieren, seinerseits weiter nach vorne zu schieben.
(Photo by Claudio Villa/Getty Images)
Eben jener Nicolo Barella ist, sofern er sich bei 100 % seiner Schaffenskraft befindet, eine Art Maschine im Mittelfeld. Nicht umsonst verlängerte Inter den Vertrag mit dem Italiener kürzlich erst bis 2029. Er ist Leistungsträger im Team wie im Dress der Nationalmannschaft und liebt es, wenn er vor einem disziplinierten, aber gleichermaßen spielstarken 6er seine Dynamik ausspielen kann. So schaltet er sich gerne in die Offensive ein, dient dort als Anspielstation und Kombinationsspieler, der den Ball gerne aus der Dynamik heraus auf die Außenbahnen verteilt, aber auch mal den Steilpass oder gar den Abschluss aus der Distanz sucht.
Trotzdem ist er fußballerisch einer der besten Spieler im Kader der Italiener. Aufgrund des höheren Risikos und der Häufung an Pässen im letzten Dritten ist die Passquote schwächer als bei Jorginho, allerdings versucht er umso häufiger, (vor-)entscheidende Pässe zu spielen. Die Risikoabwägung funktioniert bei ihm auch sehr gut, er weiß genau, wann er sich seine raumgreifenden Antritte erlauben kann und wann nicht. Verbunden mit dem Gespür für Momente, in denen es cleverer ist, abzudrehen, Ruhe in das Spiel zu bringen und neu aufzubauen macht es ihn zu einem sehr wichtigen Spieler im System Spalletti.
Das System Spalletti ist ohnehin ein gutes Stichwort. Zwei Topspieler im Mittelfeld können nämlich nur dann glänzen, wenn sie einen Trainer haben, der sie auch entsprechend einsetzt, ihnen Aufgaben zuteilt, die genau zu ihrem Spiel passen. Der Italiener, der seit September 2023 im Amt ist, hat nur eines von zehn Spielen verloren und im Kalenderjahr 2024 das System verändert, seitdem nur ein Gegentor in vier Partien kassiert. Jorginho und Barella standen beim überzeugenden 2:0 gegen Ecuador gemeinsam in der Startelf, allerdings auch zum einzigen Mal. Das ist vielleicht das einzige Manko, sie sind unter Spalletti in dem neuen System noch nicht perfekt eingespielt.
(Photo by ALBERTO PIZZOLI/AFP via Getty Images)
Aber: Spalletti ist einer der moderneren Trainer bei diesem Turnier, einer von wenigen Coaches, denen wirklich zuzutrauen ist, aktuelle Trends aus dem Weltfußball umzusetzen und den Fußball bei einem Nationalteam entsprechend zu gestalten. Gerade deswegen ist Italien so interessant, auch ohne einen absoluten Topkader zur Verfügung zu haben. Denn: Spalletti hat in Neapel gezeigt, dass er es verhältnismäßig schnell schafft, seine Spielidee umzusetzen. Diese zu perfektionieren dauert zwar, aber das taktische Niveau bei einer EM ist niedriger als im hochklassigen Vereinsfußball.
Außerdem hat Spalletti in Neapel auch mit großartigen Mittelfeldspielern zusammengearbeitet, das Zentrum als elementar angesehen. Er liebt es, wenn sein Team strukturiert spielt, sich auf zwei, drei Stützen um Zentrum verlassen kann. Da eine gut aufeinander abgestimmte Schaltzentrale nicht selten dafür sorgen kann, dass ein Team etwas über dem eigentlichen Niveau performt, wird ganz Italien darauf hoffen, dass Jorginho und Nicolo Barella im Turnierverlauf fit bleiben. Denn dann ist mit dem Titelverteidiger zu rechnen, Rollenverteilung hin oder her.
(Photo by Claudio Villa/Getty Images)