Jorginho: „Alles, was ich heute bin, verdanke ich dem Fußball" | OneFootball

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FC Bayern München

·17. August 2024

Jorginho: „Alles, was ich heute bin, verdanke ich dem Fußball"

Artikelbild:Jorginho: „Alles, was ich heute bin, verdanke ich dem Fußball"

Jorginho war der erste Weltklasse-Brasilianer im Trikot des FC Bayern. Sein Lebensweg von einer Favela in Rio de Janeiro zum WM-Titel zeigt: Fußball ist mehr als ein Spiel. Kurz vor seinem 60. Geburtstag erzählte er im Interview mit dem Mitgliedermagazin „51", wie Deutschland und Franz Beckenbauer ihn für immer geprägt haben.

Das Interview mit Jorginho

Jorginho, viele Bayern-Fans haben noch vor Augen, wie du im Mai 1994 in Gedenken an den kurz zuvor verstorbenen Formel-1-Weltmeister Ayrton Senna ein Tor bejubelt hast. Kam das damals spontan? Jorginho: „Sennas Tod hat mich sehr bewegt. Für uns Brasilianer war er ein riesiges Idol. Aber ich hatte natürlich nicht damit gerechnet, dass ich in diesem Spiel gegen Schalke ein Tor schießen würde. Ich war ja eher der Vorbereiter, habe mehr geflankt als aufs Tor geschossen. Doch dann landete ein abgeblockter Schuss von Bruno Labbadia genau vor meinen Füßen. Ich habe nicht lange überlegt, sondern sofort geschossen, mit meinem schwächeren linken Fuß. Es war wunderbar, der Ball landete genau im Winkel. Ich habe dann sofort an Ayrton Senna gedacht und ihm zu Ehren gejubelt."


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Welche Bilder hast du im Kopf, wenn du an Bayern denkst? „Als Erstes denke ich an Franz Beckenbauer. Er war zwar nur in der Rückrunde 1993/94 mein Trainer, aber es war eine unvergessliche Zeit. Mit ihm hat sich alles total verändert. Die Atmosphäre in der Kabine war plötzlich viel lockerer, auf dem Rasen haben wir einfach Fußball gespielt. Wenn ich auf meine zweieinhalb Jahre bei Bayern zurückschaue, dann denke ich vor allem an die sechs Monate mit Beckenbauer."

Deine Zeit bei Bayern ging vor bald 30 Jahren zu Ende. Welche Verbindung hast du heute noch nach München? „Erst letztes Jahr war ich mit meiner Frau zwei Wochen in München. Die Verbindung ist immer da, auch wegen der Stiftung „Stars4Kids“, die ich mitgegründet habe. Bayern und viele andere deutsche Clubs unterstützen unsere Arbeit sehr. Ich sage immer: Deutschland ist meine zweite Heimat."

Hast du denn zu Hause bei dir in Rio de Janeiro noch Lederhosen? (lacht) „Nein, aber ich habe ein Foto von mir in Lederhosen. Das ist auch eine super Erinnerung. Am Anfang war es sehr seltsam, aber dann habe ich mich in Lederhosen sehr wohlgefühlt."

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Du sprichst immer noch sehr gut Deutsch. „Deutsch zu lernen, war mir wichtig. Auch, die Kultur kennenzulernen. Ich habe in Deutschland viel gelernt, auch weil ich nicht nur mit meinen Mitspielern zusammen war, sondern mit vielen ganz „normalen“ Leuten. Ich war bei ihnen zu Hause, habe erfahren, wie sie leben, was sie denken, was sie essen. Das hat mein Leben sehr reich gemacht. Ich finde es beeindruckend, wie die Deutschen nach dem Krieg ihr Land wiederaufgebaut haben. Diese Mentalität spiegelt sich auch im Fußball wider. 1993 habe ich mit Brasilien gegen Deutschland gespielt. Zur Halbzeit haben wir 3:0 geführt, am Ende hieß es 3:3. Das ist Deutschland."

Du bist in schwierigen Verhältnissen in Rio de Janeiro aufgewachsen. Staunst du manchmal, was der Fußball aus deinem Leben gemacht hat? „Alles, was ich heute bin, verdanke ich dem Fußball. Als Spieler hatte ich große Erfolge, auch als Trainer. Aber der Fußball hat mir gezeigt, dass Gewinnen nicht alles ist. Als Trainer ist es mir wichtig, meinen Spielern etwas über das Spielfeld hinaus mitzugeben, für das Leben. So wie es Beckenbauer bei mir getan hat. Manchmal hat er dich einfach in den Arm genommen und gefragt: „Was denkst du? Was brauchst du?“ Hinter jedem Spieler steckt ein Mensch, das habe ich von Beckenbauer gelernt. Er hat meinem Leben seinen Stempel aufgedrückt. Leider konnte ich ihn vor seinem Tod nicht mehr besuchen. Nur manchmal konnte Franz auch hart sein."

Wann denn? „Zum Beispiel vor jenem Spiel gegen Schalke. Da war er richtig sauer auf mich, weil ich ein paar Tage vorher zu einem Länderspiel nach Brasilien gereist war. Er wollte, dass ich in München bleibe. Ich kam dann am Freitagabend total müde zurück, und am Samstag hat er mich auf die Bank gesetzt. Nur weil sich Dieter Frey nach 20 Minuten verletzt hat, hat er mich eingewechselt – und ich habe das schönste Tor meiner Karriere gemacht."

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Was wäre ohne Fußball aus dir geworden? „Mein Vater starb, als ich zehn Jahre alt war, einer meiner Brüder war Alkoholiker, ein anderer drogensüchtig. Auch ich habe in meiner Jugend viele Dinge gemacht, die nicht richtig waren. Zum Beispiel habe ich mit 15 mit dem Rauchen angefangen, mit 17 habe ich wieder aufgehört. Ich weiß noch genau: Am Dienstag nach Karneval habe ich zu meiner damaligen Freundin und heutigen Frau gesagt, dass ich nie wieder eine Zigarette anrühren werde. Weil ich Fußballer werden möchte. Später als Spieler war ich konditionell immer einer der Besten. Nur bei Bayern war es auch mir manchmal zu viel."

Warum? „Erich Ribbeck ließ uns am Tag nach einem Spiel immer laufen, einen Kilometer in fünf Minuten. Ich habe gesagt: „Trainer, so schnell kann ich nicht. Ich bin gestern viel gelaufen und total kaputt.“ Es hat aber nichts genützt, das war schwer damals. Aber der Fußball hat mich Disziplin gelehrt. Auch Fleiß, dass ich andere respektieren muss, dass man nicht nur gewinnen kann, dass es auch nach einer Niederlage weitergeht. Genau das versuchen wir auch mit meiner Stiftung in Rio de Janeiro Kindern und Jugendlichen zu vermitteln."

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Deine Stiftung betreibt ein Erziehungszentrum in Guadalupe, dem Stadtteil, in dem du aufgewachsen bist. „Es heißt ‚Bola pra frente', auf Deutsch: mit dem Ball nach vorne. Das sagen wir in Brasilien so, es bedeutet: „Nach vorne schauen und weiter geht’s!“ Wir betreuen 500 Kinder von sechs bis 17 Jahren, sie machen verschiedene Kurse. Und wer keine Arbeit findet, kann sich bei uns weiterbilden. Wer lange zu uns kommt, den verlieren wir nicht mehr an Drogen oder Kriminalität. Ich habe selbst viele Freunde ganz jung verloren, deswegen ist das wirklich ein Herzensprojekt von mir."

Fußball wird bestimmt auch gespielt, oder? „Natürlich. Aber Fußball ist bei uns Mittel zur Erziehung, kein Geschäft. Wir sind keine Spielerberatung. Wir wollen Menschen entwickeln, nicht Fußballspieler."

Mitte August wirst du 60. Wie blickst du in die Zukunft? „In Rente sehe ich mich noch lange nicht. Ich will weiter als Trainer arbeiten, zuletzt war ich bei Buriram in Thailand und bin dort Meister geworden. Ich bin fit und habe noch Träume, zum Beispiel irgendwann Trainer in Deutschland zu sein."

Das Interview ist in der aktuellen Ausgabe des Mitgliedermagazins 51 erschienen:

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