90min
·23. Mai 2025
Kommentar: Noch nie warf ein DFB-Kader unter Nagelsmann so viele Fragen auf

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·23. Mai 2025
Julian Nagelsmann darf sich auf die Fahnen schreiben, der Bundestrainer zu sein, der die Entfremdung der deutschen Nationalmannschaft von den eigenen Fans beendet hat. Unter dem 37-Jährigen ist die DFB-Elf wieder des Deutschen liebstes Kind, spielt attraktiven und erfolgreichen Fußball und hat die Kritik der Vorjahre vergessen lassen.
Umso überraschender ist daher die Kadernominierung für das Final Four der Nations League. Denn Nagelsmanns Entscheidungen wecken Erinnerungen an die Debatten, über die seine Vorgänger Löw und Flick regelmäßig stolperten.
Allen voran ist das Leistungsprinzip zu nennen. Nagelsmann erhielt in seiner Amtszeit bislang viel Lob dafür, formstarke Spieler zu belohnen, auch wenn sie nicht die große Namen tragen oder bei kleineren Vereinen spielen und nicht so im Fokus stehen wie andere. Das grenzte den ehemaligen Bayern-Trainer auf erfrischende Art von seinen Vorgängern ab, die sich immer wieder den Vorwurf gefallen lassen mussten, ihre Lieblinge zu haben, die auch unabhängig von ihren Leistungen im Verein dabei waren.
Vor diesem Hintergrund irritiert es nun, dass der beste deutsche Torschütze der abgelaufenen Bundesliga-Saison nicht im Aufgebot zu finden ist. Der Mainzer Jonathan Burkardt hat trotz seiner 18 Saisontore keine Einladung von Nagelsmann erhalten. Eine Begründung lieferte der Bundestrainer in dem Vorstellungsvideo des Kaders am Donnerstag nicht.
Statt Burkardt hat sich Nagelsmann im Sturm für Niclas Füllkrug, Deniz Undav und Nick Woltemade entschieden. Obwohl sich Burkardts Saisonbilanz besser liest als Woltemades lässt sich sehr gut argumentieren, dass der Stuttgarter (noch) besser in Form ist als der Mainzer und daher den Vorzug verdient hat. Dasselbe lässt sich aber über Füllkrug und Undav nicht sagen.
Füllkrug blickt auf eine schwierige Premierensaison bei West Ham United zurück. Seit Anfang April ist der 32-Jährige nach einer langen Verletzungspause zwar wieder im Einsatz, konnte jedoch seitdem nur einmal treffen und stand in den letzten vier Saisonspielen nur einmal in der Startelf des Tabellen-15. der Premier League.
Für Füllkrug spricht, dass er als physisch starker Neuner ein Profil mitbringt, das der DFB-Elf aufgrund der Verletzung von Tim Kleindienst ohne ihn fehlt. Undav ist hingegen als Spielertyp mit Burkardt zu vergleichen und hat ebenfalls eine schwächere Saison als der Mainzer hinter sich.
Lange Zeit lief der VfB-Stürmer seiner Form hinterher, erst gegen Saisonende brachte er seine Stärken wieder regelmäßig auf den Platz. Mit einem Tor und einer Vorlage am letzten Spieltag bei RB Leipzig (3:2) konnte der 28-Jährige noch einmal Werbung für sich machen. Doch auch Burkardt sammelte in der Schlussphase Argumente für eine Nominierung.
Dreimal traf der 24-Jährige an den letzten drei Spieltagen. Und sicherte den Mainzern so die zweitbeste Platzierung der Vereinsgeschichte mit Rang sechs und die Teilnahme am europäischen Geschäft in der kommenden Saison.
Nach einem Formtief inklusive erneuten Fitnessproblemen nach der Länderspielpause im März war Burkardt in den entscheidenden Wochen wieder der Spieler, den Nagelsmann noch vor den Viertelfinal-Duellen gegen Italien für seine beeindruckende Quote gelobt und im Hinspiel sogar in die Startelf beordert hatte. Warum fällt die Bewertung diesmal so viel negativer aus?
Das lässt sich nicht genau sagen, bevor der Bundestrainer eine Stellungnahme abgibt. Zunächst drängt sich jedoch der Eindruck auf, dass Nagelsmann Spieler, die schon länger dabei sind, weniger streng bewertet als Akteure, die erst vor Kurzem debütierten.
Indirekt hatte der 37-Jährige das auch schon im September bestätigt, als er mit Blick auf die WM 2026 während eines Gesprächs auf der Messe Digital X in Köln sagte: "Wir werden nicht mehr so viel verändern, weil die Gruppe einfach sehr, sehr stimmig ist.“
Nach dem Viertelfinal-Aus bei der EM hatte Nagelsmann analysiert, dass der Mannschaftskern nicht lange genug Zeit hatte, um sich einzuspielen, nachdem der Bundestrainer rund drei Monate vor Turnierbeginn den Kader noch einmal auf links gedreht hatte. Vor der WM solle die Mannschaft daher im Voraus schon deutlich länger zusammenspielen und eine stärkere Teamchemie entwickeln.
Ein Wunsch, der absolut verständlich ist. Die Sieger der jüngsten großen Turnieren - sowohl Spanien bei der EM 2024, als auch Argentinien bei der WM 2022 und Italien bei der EM 2021 - spielten schon lange vor dem Triumph in ähnlicher Besetzung zusammen. Kontinuität als Voraussetzung dafür zu sehen, den WM-Titel in rund einem Jahr ernsthaft angreifen zu können, ist die logische Schlussfolgerung.
Und doch muss Nagelsmann aufpassen, dass das Pendel nicht wieder zu weit in die Richtung Wohlfühloase kippt. Das Leistungsprinzip muss gelten, auch auf die Gefahr hin, dass noch einige Teile der stimmigen Gruppe deshalb über Bord gehen.
Neben den Nominierungen im Sturm gilt das auch für Robert Andrich. Im März hatte Nagelsmann noch bemängelt, dass zu viele Nationalspieler keine Stammspieler in ihren Klubs seien. Andrich war sicherlich einer der Akteure, an die der 37-Jährige dabei dachte. Seit März hat sich Andrichs Rolle bei Bayer Leverkusen nicht vergrößert, dreimal saß er seitdem sogar über 90 Minuten auf der Bank.
Die Frage muss daher gestattet sein, warum der 30-Jährige nun wieder im Aufgebot ist. Zumal der Bundestrainer neben Andrich noch sieben weitere Spieler nominierte, die in ihren Vereinen auf der Sechs oder der Acht zu Hause sind (Pavlovic, Stiller, Goretzka, Amiri, Groß, Nmecha und Bischof).
Insgesamt acht Spieler für zwei Positionen. Auch aus diesem Grund irritiert es, dass Nagelsmann keinen Platz für den besten deutschen Torjäger finden konnte.
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