REAL TOTAL
·18 November 2024
REAL TOTAL
·18 November 2024
Kreuzbandrisse sind im Fußball aktuell allgegenwärtig – Foto: Collage: Getty Images
Als wären die Kreuzbandriss-Meldungen der letzten Monate nicht schon genug, war es am 9. November wieder so weit. Eine vermeintlich harmlose Aktion von Éder Militão – ohne Fremdeinwirkung – und plötzlich liegt der Brasilianer schreiend und weinend am Boden. Erinnerungen an Dani Carvajal nur sechs Wochen zuvor werden wach. Beim erst 26-jährigen Innenverteidiger ist es die zweite Ruptur in nur fünfzehn Monaten, diesmal nicht links, sondern rechts. Ist das noch normal?
Allmählich ist die Anzahl an kreuzbandverletzten Spielern besorgniserregend und diese Meinung verbreitet sich nicht nur medial, sondern auch unter Ärzten. Einer von ihnen ist Dr. Pedro Luis Ripoll, unter anderem Leiter der Ripoll y de Prado Sport Clinic und medizinischer Leiter der Fußballvereine Elche, Almería, Hércules de Alicante. Im Rahmen der Radioshow El Larguero sprach er direkt nach der erneuten Verletzung Militãos Klartext.
WER IST DR. PEDRO LUIS RIPOLL?
Im ersten Schritt erklärte Ripoll, wie es im konkreten Fall von Militão überhaupt erst wieder zur Verletzung kommen konnte. Denn aus Laiensicht betrachtet wurde selbst nach mehrmaliger Wiederholung kaum ersichtlich, was eigentlich passiert war. „Die Verletzung tritt meiner Meinung nach genau beim Abstützen des Beins kurz vor dem Sturz auf. Wir alle sehen den Sturz und denken, dass es nicht so tragisch ist. Aber unmittelbar davor erfolgt eine leicht unausgeglichene Belastung des Beins, nicht übermäßig, aber leicht instabil – und dabei könnte diese Verletzung entstanden sein“, so der Traumatologe. Hinzu käme, dass laut einer Studie bei circa 15 Prozent der Spieler, die bereits eine Ruptur des vorderen Kreuzbands erlitten haben, eine Wahrscheinlichkeit bestünde, dass sie sich am anderen Bein dieselbe Verletzung zuziehen – eben wie bei Militão geschehen.
Warum tritt so ein hoher Prozentsatz dieser Knieverletzungen auf? „Das liegt an anatomischen Faktoren im Knie, an der knöchernen Struktur des Kniegelenks, an der Stellung der Beinachse, an biomechanischen Faktoren, oder – wie es bei Frauen der Fall ist – an hormonellen Einflüssen.“ Laut Ripoll mache dieses Zusammenspiel von Faktoren bestimmte Personen anfälliger für diese Art von Verletzung. „In naher Zukunft wird es sogar möglich sein, vorherzusagen, wer ein erhöhtes Risiko hat, selbst wenn diese Person bisher nie davon betroffen war. Zudem wird man in der Lage sein, zu bestimmen, welches Training am besten geeignet ist, um zu versuchen – und die Betonung liegt auf versuchen –, dieser Verletzung präventiv entgegenzuwirken.“
Verwandte Beiträge
Studien untersucht: Hausgemachte Probleme oder globaler Trend? weiterlesen
Besonders schwerwiegend sei aber oft nicht der Kreuzbandriss selbst, sondern die Schädigung der darunterliegenden halbmondförmigen Knorpelscheiben – der Menisken. Laut Ripoll sei dies „die eigentliche Verletzung“. „Wir operieren die Bänder, um die Menisken zu schützen, damit diese das Knorpelgewebe schützen, das wiederum den Knochen schützt. Es handelt sich um eine Kette. Ziel der Bandoperation ist es, die Stabilität des Knies, wiederherzustellen, damit die Menisken intakt bleiben können.“ Das Problem? „Zwar ist die medizinische Wissenschaft in Sachen Kreuzbandplastik inzwischen sehr weit, aber bei Meniskusoperationen besteht weiterhin eine hohe Versagensrate. Selbst bei korrekt durchgeführten Eingriffen.“
Schon seit einer Weile wird über die Gründe für die sich häufenden Kreuzbandrisse spekuliert. Ripolls Antwort ist durchschaubar und gleichzeitig diejenige, die eine Lösungsfindung durch ihre Komplexität so schwierig macht: „Es handelt sich um ein Zusammenspiel, es kann nicht nur auf einen Grund zurückzuführen sein.“
Für einige Real-Stars gab es in diesem Jahr praktisch – mal wieder – keine Sommerpause. Denn nach dem Champions-League-Finale am 1. Juni reiste ein Großteil direkt zu seinen Nationalmannschaften, um anschließend an der Europameisterschaft beziehungsweise an der Copa América teilzunehmen, die bereits Mitte Juni begannen und deren Endspiele Mitte Juli stattfanden. Nach nur drei bis vier Wochen Pause stürzten sich die Spieler wieder in die Vorbereitung in den USA – mit Zeitumstellung und anspruchsvollen Testspielen gegen Milan, Chelsea und Barcelona.
REAL-STARS IM EINSATZ BEI EM UND COPA AMÉRICA*
EM: Aurélien Tchouaméni, Eduardo Camavinga, Ferland Mendy (Frankreich), Antonio Rüdiger (Deutschland), Daniel Carvajal (Spanien), Luka Modric (Kroatien), Jude Bellingham (England), Andriy Lunin (Ukraine), Arda Güler (Türkei)
Copa América: Vinícius Júnior, Rodrygo, Éder Militão (Brasilien), Federico Valverde (Uruguay)
* nur Spieler, die aktuell noch bei Real Madrid spielen fett: Startelfspieler im UEFA-Super-Cup-Finale
Ripoll sieht hier einen Knackpunkt: „Bei Real Madrid hatten sieben oder acht Spieler lediglich eine Woche Vorbereitungszeit, bevor sie beim Super-Cup-Finale auf dem Platz standen. In den darauffolgenden zwei Monaten erlitten 80 Prozent dieser Spieler Verletzungen. Das Training umfasst nicht nur die körperliche Grundkondition, sondern auch das neuromuskuläre Training, das für die automatische Steuerung von Bewegungsabläufen unerlässlich ist. Wenn ein Spieler springt oder auftritt, muss sein Gehirn trainiert sein, um den Bewegungsapparat zu schützen. Diese spezifischen neuromotorischen Fähigkeiten waren in diesem Fall unzureichend entwickelt.“
Hinzu kommt die enge Taktung des Spielplans, die mit der Champions-League-Reform, dem FIFA Intercontinental Cup, Länderspielpausen und natürlich auch der weiterhin stattfindenden Supercopa de España in Saudi-Arabien (wenn auch mit gestrichener Verlängerung) kaum noch Pausen beinhaltet. 72 Spiele könnten Real Madrid somit in dieser Saison drohen. Die Meinung des Mediziners: „Eine Reform des Spielplans ist unumgänglich. Zusätzlich müssen die Kader so ausgeglichen sein, dass die Belastung bewältigt werden kann, ohne dass eine übermäßige Spielzeit das Verletzungsrisiko unnötig erhöht. Denn letztendlich ist es eine statistische Frage: Je mehr Minuten ein Spieler auf dem Platz steht, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für Verletzungen. Dies ist eine Erklärung, die nicht nur ich abgebe, sondern die die FIFA in all ihren Studien liefert.“
Anschließend lieferte der Chirurg eine logische Argumentation, nach der jedoch bisher eine entsprechende Handlung ausgeblieben ist: „Real Madrid hat enorme Schwierigkeiten eine stabile Abwehr aufzustellen. Dies führt manchmal dazu, dass Spieler eingesetzt werden müssen, obwohl sie nicht bei 100 Prozent sind. Die Probleme verschärfen sich weiter, da fünf bis sechs Verteidiger verletzungsbedingt nicht zur Verfügung stehen. Das summiert sich in vielen Spielminuten und erhöhtem Risiko für bestimmte Spieler.“ Opfer dieser Unausgeglichenheit wurde erneut Militão. Warum? „Er erlitt im September und Oktober muskuläre Verletzungen. Es ist wahrscheinlich, dass er sich ohne diese vorherigen Verletzungen in einer besseren körperlichen Verfassung befunden hätte, um die Belastungen zu bewältigen, die nun zur erneuten Verletzung geführt haben.“ Und nicht nur Militão war verletzt, bevor es den völligen K.o. setzte, wie die folgende Tabelle zeigt:
KREUZBANDRISSE mit VORGESCHICHTE
Wie so oft liegt die größte Herausforderung bei der Lösungssuche in den Interessenskonflikten zwischen allen Beteiligten. So fasste Ripoll zusammen: „Spieler klagen über zu viele Einsatzminuten, wollen aber trotzdem jede Minute spielen. Die Vereine verweisen auf die Kalender und ihr Recht, Einnahmen zu generieren. Die medizinischen Teams stellen die Gesundheit der Spieler in den Vordergrund, die Verbände vertreten die Interessen ihrer Nationalmannschaften.“ Dabei handele es sich um ein komplexes Problem, „das nur eine Lösung hat: Alle Beteiligten müssen ihre Masken fallen lassen und sich auf eine gemeinsame Stategie einigen, bei der ihre Interessen miteinander in Einklang gebracht werden, andernfalls wird die Situation außer Kontrolle geraten.“
In diesem Zusammenhang verwies der Experte auf die Regelung, Spieler nachzuverpflichten, wenn andere langfristig verletzt ausfallen. „Diese Möglichkeit sollte auch genutzt werden, anstatt sich mit den bestehenden Ressourcen zu arrangieren.“ Und genau hier liegt im Fall von Real Madrid der Hund begraben. Pressekonferenz um Pressekonferenz fällt die gleiche Aussage: „Wir arbeiten, mit dem was wir haben.“ Doch das, was Real hat, ist scheinbar nicht mehr genug. Und vor allem gefährdet es allmählich die Gesundheit des restlichen Teams. Bei El Larguero ist bereits die Rede einer Ausbeutung von Spielern wie Federico Valverde, der bisher in jedem Spiel von Anfang an auflief, schon 1.438 Minuten hinter sich hat und dann noch als Allrounder im Zentrum auf dem Flügel und von nun an wohl auch in der Rechtsverteidigung eingesetzt wird. Darüber liegt nur Antonio Rüdiger mit 1.446 Minuten.
Und das Thema Jugend? Auch da zieht sich der Kreuzbandvirus durch. Aktuell verletzt sind Innenverteidiger Joan Martínez und Mittelfeldspieler César Palacios. Und einer musste seine Karriere nach einem Kreuzbandriss nun mit nur 19 Jahren beenden: Mittelfeldmann Marc Cucalón hatte sich Anfang der Saison 2022/23 verletzt und ist nach verschiedenen Komplikationen nie wieder der Alte geworden. Zwar sei laut Ripoll nicht zu vernachlässigen, dass „Unfälle immer möglich sind“ – und am Beispiel von Thibaut Courtois zeigt sich (bis jetzt), dass nach einer Kreuzbandruptur (mit Meniskusschaden) alles wieder gut werden kann – aber ist das die Entschuldigung für das fahrlässige Handeln?
Schwere Verletzungen der letzten Jahre
Bei Real Madrid:
Weitere in LaLiga (Auswahl):
Reportage
Mehr Spiele, Wettbewerbe und Reisen und dadurch noch größere Belastung? Das ZDF hat sich dem großen Thema angenommen und schaut auch, wie FIFA und Co. dagegen argumentieren.