FC Schalke 04
·4 February 2025
FC Schalke 04
·4 February 2025
„Lieber Ernst, der Tag, an dem ich dein Foto in meinem Posteingang fand, war einer der schönsten auf Schalke. Endlich kannte ich dein Gesicht“, erinnert sich die Historikerin und S04-Betriebsrätin Dr. Christine Walther auf dem ehemaligen Appellplatz, wo 102.000 kleine Steinstelen symbolisch für die deportierten Menschen des Lagers Westerbork stehen. Anlässlich der #STEHTAUF-Woche besuchten Mitarbeitende des Vereins auf Einladung von Schalke hilft! das ehemalige Durchgangslager der Nationalsozialisten in den Niederlanden.
Christine Walthers bewegte und bewegende Worte richten sich an den ehemaligen Jugendspieler Ernst Alexander, dessen viel zu kurzen Lebensweg sie für das Vereinsarchiv rekonstruiert hat. Eine der Stelen erinnert an ihn, denn das Lager Westerbork markiert seine vorletzte Lebensstation. „Die Faschisten haben dich ausgelöscht, aber nicht die Erinnerung an dich,“ betont Walther. Zum Gedenken haben die Schalker Mitarbeitenden ein Foto dabei, damit zukünftig alle Besucher sein Gesicht kennen. Die Erinnerungskultur zu pflegen, scheint 80 Jahre nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz wichtiger denn je.
Deshalb ist nicht nur das Schicksal des Schalkers der Grund für den Besuch: Die Mitarbeitenden folgen an diesem grauen und stürmischen Januartag den Spuren von mehr als 100.000 Menschen, die diesen Ort des Schreckens zum größten Teil auf dem Weg in den sicheren Tod durchliefen. 1939 ursprünglich als Flüchtlingslager für Juden erbaut, die vor allem aus Deutschland, aber auch aus Österreich und der Schweiz kamen, nutzten es die nationalsozialistischen deutschen Besatzer ab 1942 als Durchgangsstation, um Juden, aber auch Sinti, Roma in die Vernichtungslager Sobibor und Auschwitz zu schicken. In Letzterem wurde auch Ernst Alexander 1942 von den Nazis ermordet.
Dass diese Exkursion kein Vergnügungsausflug wird, ist allen bewusst. Die Stimmung der Gruppe schwankt zwischen Erwartung und Anspannung. Einige haben Erfahrungen auf dem Gebiet, für andere ist es die erste Gedenkstättenfahrt. Fanbeauftragter Sven Graner, der die #STEHTAUF-Initiative koordiniert, ermuntert zur Achtsamkeit gegenüber den eigenen Gefühlen: „Es ist wichtig, sich Zeit zu geben und die Eindrücke wirken zu lassen.“ Zur thematischen Unterfütterung halten Dr. Sabine Kittel vom Gelsenkirchener Institut für Stadtgeschichte (ISG) und S04-Mitarbeiter Thomas Spiegel aus dem Team Tradition des S04 Vorträge.
Die stellvertretende ISG-Leiterin ist ein bekanntes Gesicht auf Schalke, denn sie arbeitet häufig mit dem Verein, dem Fanprojekt und der Schalker Fan-Initiative an historischen Themen. Die Historikerin stellt den Teilnehmenden einige jüdische Gelsenkirchener vor, die damals das gleiche Schicksal erleiden wie Alexander. Menschen, die eben noch Teil der Stadtgesellschaft sind, um in den Jahren der Nazi-Herrschaft verfolgt, entrechtet und getötet zu werden. Der persönliche Zugang macht die Geschehnisse nahbarer und wirft viele Nachfragen auf, die Kittel so ausführlich wie möglich beantwortet.
Spiegel widmet sich in seinem Vortrag eingehend dem Leben Ernst Alexanders, der in diesem dunklen Kapitel der Vereinsgeschichte leider kein Einzelschicksal darstellt. Während für den S04 – gemessen an den sechs Deutschen Meisterschaften – die erfolgreichste Zeit anbricht, beginnt für Millionen von Menschen ein tödlicher Albtraum. Als die Nazis 1933 an die Macht gelangen, schließen viele Vereine ihre jüdischen Mitglieder im vorauseilenden Gehorsam aus – auch der FC Schalke 04.
Fortan darf das Talent nicht mehr in der Schalker Jugend spielen, 1938 verliert der junge Gelsenkirchener auch seine Arbeit im jüdischen Kaufhaus Carsch, das geschlossen wird. Sein Vater wird im selben Jahr ins KZ Sachsenhausen deportiert, woraufhin sich seine Mutter das Leben nimmt. Der damals 24-jährige Ernst Alexander entscheidet sich mit seiner Schwester Johanna (15) und Bruder Alfred (17) im Dezember 1938 zur Flucht. In den vermeintlich sicheren Niederlanden verlieren sie sich jedoch aus den Augen – für immer.
Alfred wird ins KZ Mauthausen deportiert und im selben Jahr wie sein großer Bruder von den Nazis ermordet. Von den dreien überlebt nur Johanna die Shoah und kehrt nach dem Kriegsende zurück nach Gelsenkirchen. Auch ihr Schicksal beschäftigt die Mitarbeitenden in der anschließenden Diskussion intensiv. Sie bekommt zwei Kinder, denen sie jedoch zeitlebens nichts von ihren beiden ermordeten Brüdern erzählt. Sie erfahren erst nach dem Tod der Mutter 1969 vom Leidensweg der gesamten Familie. Kittel nennt es „das große Schweigen“, das vielfach um sich griff – wohl nicht nur aus der Unfähigkeit, das Grauen in Worte zu fassen, sondern auch aus der Sorge, dieses Trauma an die nächste Generation weiterzugeben.
2017 aber schließt sich ein kleiner Kreis: Als der Verein zum Gedenken an Ernst Alexander die gleichnamige Auszeichnung einführt, nimmt auch sein Neffe Alfred Brechner, der nach einem seinem jüngeren Bruder benannt ist, an der Verleihung teil. Eine Geschichte, die die Mitarbeitenden sichtlich bewegt.
Neben der Dauerausstellung der Gedenkstätte, die viele Einzelschicksale vorstellt, gibt es einen Raum, in dem auf Schriftrollen alle 102.000 Namen der Menschen verewigt sind. Sie spielen auch im weiteren Verlauf eine wichtige Rolle, wie die Niederländerin Alida Jansen erläutert. Die pensionierte Deutschlehrerin führt die Gruppe im Anschluss fachkundig über das Gelände des ehemaligen Durchgangslagers. Vieles ist abgerissen, von den Baracken steht nur noch eine, die zu Ausstellungszwecken wieder aufgebaut wurde.
Zwei Güterwaggons veranschaulichen die katastrophalen Bedingungen, unter denen im Schnitt 1000 Menschen pro Woche unvorstellbar eingepfercht in Richtung der Vernichtungslager deportiert wurden. Ein Audio-Denkmal verliest die Namen aller 102.000 Menschen. „Im Judentum sagt man, wenn ein Name nicht mehr ausgesprochen wird, stirbt der Mensch ein zweites Mal,“ erläutert Jansen, die es eindrucksvoll schafft, die Geschichte lebendig werden zu lassen. Sie berichtet über den Alltag im Lager, die Leiden, Hoffnungen und Wünsche anhand zahlreicher Biografien: „Jeder wollte hier Arbeit finden, denn solange man Arbeit hatte, durfte man bleiben und musste nicht die Fahrt ins Ungewisse antreten.“
Die Führung endet an einem Mahnmal. Es besteht aus Gleisen, die einige Meter normal verlaufen, bis sich die Schienen von den Holzbohlen lösen und gen Himmel zeigen. „Die dunklen Steine rund um die Schienen symbolisieren die Inhaftierten, die hier gefangen waren“, erklärt Jansen. „Die gewaschenen weißen Steine stehen ebenfalls sinnbildlich für Menschen. Es sind die, die zugesehen und nichts gegen dieses Unrecht unternommen haben.“
Ein Bild, das bleibt. So formuliert ein Mitarbeiter in der anschließenden Reflektionsrunde, die Leonie Schöning und Sophie Seegert vom Schalker Fanprojekt moderieren, seine Gedanken: „Ich glaube, das Wichtigste, was man heute mitnehmen kann, sind die Erkenntnis und der Wunsch: ‚Sei kein weißer Stein.‘ Wir sollten nicht zusehen, wenn anderen Unrecht geschieht, sondern immer mutig sein und uns einmischen.“ Ähnliche Worte findet Thomas Spiegel in seinem Vortrag, als er Friedensnobelpreisträger Elie Wiesel zitiert: „Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass, sondern Gleichgültigkeit.“