Nur die Raute
·12 Mei 2025
4 Säulen des Erfolgs: So führte Polzin den HSV zum Aufstieg

Nur die Raute
·12 Mei 2025
2.556 Tage nach dem Abstieg aus der Bundesliga konnte der HSV mit der 6:1-Gala gegen Ulm den lang ersehnten Aufstieg in die höchste Spielklasse des deutschen Fußballs klarmachen.
Maßgeblichen Anteil daran hat Merlin Polzin, der als Trainer-Novize das vollbrachte, woran manch erfahrene Vorgänger teils kläglich scheiterten: den HSV über einen längeren Zeitraum in die Erfolgsspur bringen und den Aufstieg zur Realität werden lassen. Was Polzin und sein Trainerteam aus Loïc Favé und Richard Krohn umsetzten, um den Traum aller Fans endlich wahr zu machen: hier in der Analyse.
Vorgänger Steffen Baumgart setzte in dieser Saison auf eine Fünferkette, die dem HSV maximale Stabilität gegen den Ball und in der Restverteidigung verleihen sollte. Was zu Beginn noch gut funktionierte, und sich die Gegner der Hamburger zwar einige, aber eher ungefährlichere Chancen erspielten, wurde im Laufe der Spielzeit immer instabiler.
Den Rothosen fehlte der Zugriff im Mittelfeld, teils mit Schwierigkeiten, die Halbräume und Außenbahnen vernünftig zu verteidigen, weil sich die zentralen Mittelfeldspieler zu sehr auf das Zentrum fokussierten. Zudem war die tiefe Positionierung Mefferts, der sich in die Abwehrkette fallen ließ, ein weiterer Verlust im Versuch, frühzeitig Bälle zurückzuerobern.
Polzin löste direkt nach Übernahme des Cheftrainerpostens die Fünferkette auf, installierte eine Viererkette mit einem defensiven Mittelfeldspieler davor – etwas, was man aus den letzten Jahren bereits kannte. Und es funktionierte. Ist ein defensives Bollwerk nicht allein an der Abwehrkette zu erklären, so sind sieben Zu-Null-Spiele in gerade mal 20 Ligaspielen ein klares Indiz für ein besseres Verständnis der HSV-Verteidiger untereinander.
Ein weiterer Kniff des Coaches war die Abkehr von zu großen Mannorientierungen. Unter Baumgart sah man häufig Schwierigkeiten bei der Zuteilung der Gegenspieler. Die Spieler wurden zu leicht aus ihren Positionen gezogen, Gegner wurden zu wenig übergeben, und so entstanden große Räume – auch in der letzten Kette und den Halbräumen vor der Abwehr.
Polzin kehrte zur raumorientierten Verteidigung zurück. Die Spieler reagierten mit mehr Sicherheit in ihren Abwehraktionen, hatten mehr Verständnis, wann sie auf den Gegner hochschieben konnten, und wer dafür andere Räume übernehmen musste. Ergebnis war die oben angesprochene Bilanz: ein Anteil von 35 % an Spielen ohne Gegentreffer für den HSV unter Polzin.
Foto: Getty Images
Unter dem 34-Jährigen bekamen manche Akteure andere Rollenprofile, als es unter Baumgart noch der Fall gewesen war. Auffälligste Änderungen waren sicherlich der wieder weiter vorne agierende Meffert und Emir Sahiti, der sich in deutlich zentraleren Räumen bewegte als unter dem jetzigen Union-Trainer.
Man bekam das Gefühl, dass die Stärken der Spieler mehr im Vordergrund standen als eine vorher feststehende taktische Idee, die von den Spielern ausgeführt werden musste.
Ein Sahiti spielte unter Baumgart deutlich mehr als Außenbahnspieler, wofür ihm letztendlich von ein wenig das Tempo fehlt, um dort den großen Unterschied zu machen. Nach Polzins Änderungen war Sahiti eher ein weiterer offensiver Mittelfeldspieler als Außenstürmer, durfte sich deutlich freier bewegen, und so kamen seine Stärken in der Ballbehandlung, seine Passsicherheit und auch sein starkes Spiel gegen den Ball deutlich besser zur Geltung.
Meffert schob wieder mehr hoch, konnte dort seine gute Antizipation und sein weiträumiges Verteidigen besser einbringen als in seiner statischen Rolle als zentraler Mann in der Fünferkette.
Solch vermeintlich kleine Stellschrauben halfen den Spielern, schnell wieder mehr Selbstvertrauen in ihre Aktionen zu bringen – ein Punkt, der deutlich wertvoller sein kann als jede taktische Idee, die man sich in der Analyse überlegen kann.
Im modernen Fußball wird es immer wichtiger, den eigenen Ballbesitz in Räumen zu denken. Das klassische Positionsspiel, in dem elf Spieler in vorgefertigten Positionen verharren und so den Gegner bespielen, kann in Spielphasen funktionieren, wird aber immer unbeliebter.
Und so war es auch dem HSV wichtig, seine Gegner immer wieder vor neue Aufgaben zu stellen. Im eigenen Spielaufbau hatte man verschiedene Facetten, um das eigene Spiel nicht zu ausrechenbar werden zu lassen: Agieren über den Dritten mit einem entgegenkommenden defensiven oder zentralen Mittelfeldspieler, kombiniert mit breitstehenden Innenverteidigern.
Bälle von Keeper Heuer Fernandes als Teil des eigenen Aufbaus, um Mannorientierungen des Gegners aufzubrechen. Aber auch der lange Ball auf den kopfballstarken Selke, der die Bälle regelmäßig in die Tiefe weiterleiten oder kurz ablegen konnte. All das waren Aspekte, die dem HSV in der ersten Phase des Ballbesitzes halfen, verschiedenste Herangehensweisen ihrer Gegner zu bespielen.
Hatte man sich einmal frei kombiniert, sah man viele Rotationen auf dem Platz. Die Spieler hatten die Freiheiten, um Überzahlsituationen herzustellen und den Gegner so unter Druck zu setzen und die eigene Formation zumindest mal zu hinterfragen. Ließ sich der Kontrahent durch die entstandene Unterzahl locken, bespielte man entstandene Räumemeist sehr konsequent – vor allem Ransford Königsdörffer war ein elementarer Bestandteil in dieser Herangehensweise. Sein Mix aus bestechendem Speed, aber immer wieder auch guten Bewegungen und Positionierungen in den Halbräumen, half den Hanseaten, ihre Gegner immer wieder vor neue Aufgaben zu stellen.
So hatte Polzin eine Taktik gefunden, die gar nicht auf ein bestimmtes Ideal ausgerichtet war. Sie lebte von ihrer Variabilität – natürlich festgelegt in ihren Prinzipien, ohne aber die eigenen Spieler mit Vorgaben zu überfrachten oder zu beschränken.
Insgesamt 27 Spieler setzte Merlin Polzin in seinen 20 Partien als Cheftrainer ein, immerhin 19 Spieler sammelten mindestens zehn Ligaeinsätze unter ihm. Der gebürtige Hamburger schaffte es zum einen, unangenehme Entscheidungen zu treffen, ohne aber zum anderen mannschaftliche Geschlossenheit einzubüßen.
Ganz im Gegenteil: Führungsspieler der Mannschaft sprachen sich früh für ein dauerhaftes Engagement als Boss aus. In den sieben Monaten seiner Amtszeit war rein gar nichts Negatives zu hören, das Team schien gefestigt und bereit, ihm überall hin zu folgen. Auch Verletzungen zwangen den jungen Coach zu häufigen Veränderungen, was auch zur Wahrheit der Nutzung der Kaderbreite gehört.
Trotzdem war Polzin bereit, gute Leistungen zu belohnen – gleichzeitig aber auch keine Freifahrtscheine zu verteilen. Lediglich Daniel Heuer Fernandes und Jean-Luc Dompé spielten in jedem Ligaspiel unter ihm. Man achtete stets darauf, Formstärke überall der nominell in der Theorie vorhandenen höheren Qualität vorzuziehen. So schaffte es das Trainerteam über die gesamte Zeit, eine Einheit aus der Mannschaft zu formen – vielleicht die wichtigste Errungenschaft zum Erreichen des so sehnsüchtig herbeigesehnten Aufstiegs.
Jan Schultz (Taktik-Experte und Autor beim Rautenball-Blog)
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